Legenden und Sagen:
Der brave Nachtwächter
Es ist dem Anschein nach schon lange her, seit das Mittelalter vergangen ist. Einige Jahrhunderte! Aber noch finden wir allenthalben deutliche Spuren davon. Von den Höhen der Kärntner Berge grüßen mehr oder weniger verwitterte Burgruinen, die von einstigem Verteidigungswillen Zeugnis geben. In kleinen Städten gibt es noch Überreste von Stadtmauern, ja sogar gut erhaltene Stadttore, Mauertürme und noch sichtbare Wassergräben, welche einst den Ort gegen feindliche Einfälle schützten. Häuser gibt es, an denen Jahreszahlen zu lesen sind, die uns weit zurückblicken lassen in längst vergangene Zeiten.
Es ist gut ein halbes Jahrhundert her, da gab es in Eberndorf, einem aufstrebenden Ort in Unterkärnten zwischen dem Klopeiner See, dem Gösselsdorfer See und dem Turnersee, der damals noch Sablatnigsee hieß, ein Überbleibsel aus dem Mittelalter zu erleben. Ja, zu jener Zeit war Eberndorf noch ein stiller, verschlafener Ort. Es fuhren noch keine lärmenden Autos durch und verdarben die gute Luft, es gab noch kein elektrisches Licht, das die Straßen des Dorfes nächtlich erhellt hätte.
Auch die fleißigen Bewohner des Ortes und seiner Umgebung, Deutsche, Windische und Slowenen, lebten still und zufrieden in guter Eintracht. Im großen alten Stift waren die fünfklassige Volksschule untergebracht, das Bezirksgericht, das Steueramt und das Notariat. Ein Teil der Lehrer und Beamten wohnte darin. Die Unverheirateten unter ihnen lebten in Zimmern, die mit alten Stiftsmöbeln ausstaffiert waren, den Zellen der Chorherren, die einst hier gehaust hatten. Wer abends ausging, hatte eine Laterne mit, welche die fehlende Straßenbeleuchtung ersetzen mußte. Von weitem sah es aus, als ob Glühwürmchen durch die finstere Nacht geisterten.
Und — einen Nachtwächter nach mittelalterlicher Art gab es auch noch! Vor gut einem halben Jahrhundert! Einen Nachtwächter mit Laterne und Hellebarde! Wenn die Nacht angebrochen war, dann begann das Tagwerk des alten Schluet. Er hinkte stark und war für diesen Dienst gerade recht. Wenn die Nacht da war, dann war auch er da! Die Laterne leuchtete ihm auf seinem von der Gemeinde bestimmten Rundgang, den er in jeder Nacht oftmals machen mußte, die Hellebarde klirrte bedrohlich auf dem Weg.
An gewissen Punkten des Ortes verhielt der alte Nachtwächter den schweren Schritt. Dann sang er das alte, Jahrhunderte alte Lied, das den Ortsbewohnern sagen sollte, daß sie ruhig schlafen könnten, denn das Auge des Gesetzes wache:
„Ihr Herren und Frauen, loßt enk sog'n,
d'r Homm'r hot elfe g'schlog'n,verwohrt's dos Feier und dos Liacht,
doß koan Unglick g'schiacht! Guate Nocht!"
Hatte er den Spruch gesungen, dann schlurfte er weiter zur nächsten vorgeschriebenen Rufstelle. Die ganze Nacht so! Er nahm seinen Dienst sehr genau. Und wenn er sich auch manchmal ermüdet auf eine Bank setzte, um ein wenig auszuruhen, und dabei einnickte, zur rechten Zeit war er wieder wach und sang sein Sprüchlein.
Da gab es einmal einen heiteren Zwischenfall. Ein paar junge Leute saßen spät abends noch in einem Gasthof beisammen, plauderten und scherzten. Unter ihnen ein Sommergast, der erst an diesem Tag eingetroffen war. Er hatte sich schnell mit den Einheimischen bekannt gemacht. Da plötzlich ertönte vor dem Gasthaus der Gesang des Nachtwächters. Der Sommergast fragte, was das zu bedeuten hätte. Man erklärte es ihm. Da sprang er auf und eilte vor das Haus, denn einen echten Nachtwächter mit Laterne, Horn und Hellebarde hatte er noch nicht gesehen. Er fühlte sich in das Mittelalter zurückversetzt. Eben hatte der Nachtwächter sein Liedchen beendet. Da sprach ihn der Fremdling an:
„Singen Sie das noch einmal! Ich gebe Ihnen zwei Kronen."
Der alte Schluet, der sicher keinen allzugroßen Lohn für seine nächtlichen Wanderungen bekam und auch sonst mit Glücksgütern nicht gesegnet war, hätte die zwei Kronen schon brauchen können. Aber er blieb standhaft und brummte nur:
„I bin in Dienst."
Sprach's und hinkte weiter, den verdutzten Sommergast stehenlassend. Fast beleidigt und doch belustigt kehrte dieser zu seiner Gesellschaft zurück. Da erklang vor der nahen Propstei noch einmal der Gesang des unbestechlichen Nachtwächters. Nun konnte der fremde Mann das Lied doch noch einmal hören und zwar - gratis!6
6 Kärntner Landsmannschaft 7 / 1965, 8.: Nachtwächter gab es in Eberndorf bis 1934. In der Gemeinderatssitzung vom 27. April 1934 beschloß der Gemeindevorstand, infolge der schlechten finanziellen Lage der Gemeinde den Nachtwächterposten in Eberndorf bis auf weiteres aufzugeben und den damaligen Nachtwächter Johann Gallo zu entlassen. Gemeinderatsprotokolle 1934
Aus Monika Siedler "Marktgemeinde Eberndorf - einst und jetzt"
Marktgemeinde Eberndorf, Gesamtherstellung Carinthia, Klagenfurt 1992, S. 228 - 229
Anmerkung: Schreibweise nach dem Original.
Letzte Aktualisierung: 25.5.2021